Die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi hat nicht nur Ägypten verändert.
Die Ereignisse dieses Sommers werden die Arabische Welt ebenso prägen wie der Beginn des Arabischen Frühlings 2011.
"Die gestürzten arabischen Diktatoren Zine el-Abidine Ben Ali, Ali Abdullah Salah und die anderen sitzen jetzt vor dem Fernseher und reiben sich die Hände“, sagt Tawakul Karman, und in ihrer Miene spiegelt sich eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. 2011 bekam die Journalistin aus Jemen stellvertretend für die AktivistInnen des Arabischen Frühlings den Friedensnobelpreis. Damals herrschte Aufbruchsstimmung. Jetzt, gut zwei Jahre danach, muss sie sich anstrengen, um noch optimistisch in die Zukunft zu schauen. Das Treffen im Haus der bekannten Aktivistin in Sana‘a findet in einem besonders düsteren Moment statt: Es war der 14. August 2013, kurz nach Mittag. In Kairo werden in diesen Stunden die Protestlager der AnhängerInnen des Anfang Juli gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi geräumt. Mit großer Brutalität gehen die ägyptischen Sicherheitskräfte gegen die islamistischen DemonstrantInnen vor.
„Dies ist eine Katastrophe nicht nur für Ägypten, sondern für die ganze Region. Das alte Regime schlägt zurück“, so Karman. Wenn es gelingen sollte, in Ägypten die Revolution von 2011 quasi ungeschehen zu machen, dann werde dies auch auf die anderen Länder des Arabischen Frühlings große Auswirkungen haben.
Tatsächlich gilt Ägypten in der arabischen Welt als Vorbild: „Natürlich haben wir genau beobachtet, was in den anderen Ländern im Frühjahr 2011 passierte. Tunesien hat uns begeistert, aber das hätte noch Zufall sein können. Als wir aber sahen, dass Hosni Mubarak aus dem Amt getrieben wurde, da war das für uns das Zeichen zum Aufbruch!“, erklärte ein Aktivist aus Bahrain. Das war im Februar 2011, als auch in dem Inselstaat am Persischen Golf die Jugend in Zeltlagern gegen die Regierung demonstrierte.
Der Sturz Mubaraks inspirierte die Jugendlichen in vielen Ländern, sich ebenfalls gegen ihre Herrscher zu erheben. Sie ließen sich auch nicht davon abhalten, als sich herausstellte, dass Ägypten ein Sonderfall war und die Revolution keine wirkliche Revolution war, sondern sich einer Interessenüberschneidung zwischen jungen Revolutionären und Militärführung verdankte. Beide Seiten wollten Mubarak loswerden, und so wurde er abgesetzt. In allen anderen Ländern des arabischen Frühlings zog sich der Machtwechsel sehr viel länger hin und kostete mehr Blut.
Auf die Aufstandsphase folgte schnell eine Blütezeit des politischen Islam. Auch in dieser Entwicklung war Ägypten Vorreiter in der arabischen Welt. Obwohl sie sich nur zögerlich dem Aufstand gegen Mubarak angeschlossen hatte, wurde die Muslimbruderschaft schnell zur wichtigsten politischen Kraft. Gemeinsam mit der Militärführung stellte sie die Weichen für Ägyptens Zukunft. Im Juli 2012 wurde mit Mohammed Mursi ein Muslimbruder zum ersten zivilen Präsidenten Ägyptens gewählt. Auch in den anderen Ländern drängten gemäßigte Islamisten in Machtpositionen. Das hatte allerdings nicht nur mit dem ägyptischen Vorbild zu tun, sondern auch mit finanzieller Rückendeckung. Der Emir von Katar sah in den Muslimbrüdern die geeignete Kraft, die Region in die Zukunft zu führen: Islamisch, wirtschaftlich erfolgreich und vor allem stabil. Diese Meinung wurde auch von Teilen der US-Außenpolitik vertreten, zudem sah man keine Alternative.
Zunächst sah es so aus, als ginge der Plan auf: Muslimbrüder und Co. dominierten in den meisten Ländern des Arabischen Frühlings die neuen Regierungen. Allerdings hatten die Muslimbrüder Ägyptens begonnen, Fehler zu machen. „Wir hatten immer Respekt für die Muslimbrüder, weil sie so organisiert sind, und dachten, dass sie zwar nicht unsere ideologische Linie vertreten, aber immerhin eine fähige Regierung auf die Beine stellen würden. Doch wir merkten schnell, dass wir uns getäuscht hatten. Sie konnten es nicht!“, so Hussein Gohar von der ägyptischen sozialdemokratischen Partei. Tatsächlich sank Mursis Stern schnell. Fehlentscheidung folgte auf Fehlentscheidung. Statt Allianzen mit den anderen politischen Lagern zu schmieden, brachte er seine Gefolgsleute in Position. Im November 2012 hebelte er mit einem Dekret die Gewaltenteilung aus und brachte Hunderttausende gegen sich auf die Straße. Es entstand eine neue Allianz: Liberale Opposition und Altes Regime. Das Militär hielt sich zunächst heraus. Zur Unzufriedenheit der Bevölkerung über die Regierung kam Propaganda durch Medien, die noch immer in den Händen der alten Garde waren.
Die Regierungsführung der Muslimbrüder zeigte schnell Auswirkungen auch auf die anderen Länder der Region: „Mit der Art, wie die Regierung in Ägypten Politik macht, ruiniert sie den Ruf der Muslimbruderschaft insgesamt“, kommentierte ein führendes Mitglied der Bruderschaft in Kuwait das Präsidentschaftsdekret und die Proteste gegen die Regierung Mursi im November 2012. Im Frühjahr 2013 mobilisierte die Protestbewegung Tamarod (Rebellion) gegen den Präsidenten. Millionen gingen gegen Mursi auf die Straße, und die Militärführung nutzte die Gelegenheit: Am 3. Juli wurde Mursi abgesetzt. Seine Absetzung hat die ägyptische Gesellschaft noch tiefer gespalten, als sie es schon vorher war.
Natürlich haben die Ereignisse des Sommers auch die Nachbarländer beeinflusst: In Tunesien formierte sich nach dem Vorbild der Tamarod-Bewegung der Protest gegen die von der islamischen Ennahda-Partei geführte Regierung. Tunesien ist ebenso wie Ägypten tief gespalten: Islamisten und Liberale stehen sich gegenüber. Der Protest gegen die Regierung wurde angefacht durch die Ermordung zweier angesehener liberaler Politiker, und mehrfach kam es zu Massendemonstrationen. Allerdings zeigen sich auch deutlich die Unterschiede: Tunesiens Ennahda (Wiedergeburt) hat bei den Wahlen 2011 eben nicht die absolute Mehrheit im Parlament gewonnen und muss stärker auf Koalitionen setzen. Die Partei ist auch nicht so alt und verkrustet wie die Mutterbewegung in Ägypten. Nicht zuletzt ist es aber wohl die Erschütterung darüber, wie schnell Mursi wieder aus dem Amt war, die den tunesischen Premier dazu bewogen hat, im Oktober einzulenken. Er hat einen Nationalen Dialog einberufen, der Neuwahlen vorbereiten und alsbald eine Übergangsregierung aus Technokraten berufen soll.
TUNESIEN
2011: Massenunruhen, auch Jasmin-Revolution genannt, sind Ausgangspunkt des Arabischen Frühlings. Nach dem Sturz von Zine el-Abidine Ben Ali steht das Land im Zeichen der ersten freien Wahlen seit 23 Jahren. Es kommt dennoch immer wieder zu Zusammenstößen.
Bei den Wahlen im Oktober geht die umstrittene islamistische Partei Ennahda offiziell als Sieger hervor.
2013: Viele BürgerInnen wehren sich gegen die von der Ennahda betriebene Islamisierung, das Land bleibt politisch instabil.LIBYEN
2011: Massenproteste entwickeln sich aufgrund der harschen staatlichen Reaktionen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Im Oktober wird Staatschef Muammar al-Gaddafi getötet, der UN-Sicherheitsrat beschließt das Ende des mehrmonatigen NATO-Einsatzes. Ein politischer und gesellschaftlicher Neuanfang steht an.
2013: Im Mai tritt Übergangspräsident Mohammed al-Megarif von seinem Amt zurück. Übergangspräsident Ali Seidan versucht, das Land zu stabilisieren, die Milizen geraten zunehmend außer Kontrolle.ÄGYPTEN
2011: Im Februar Rücktritt von Langzeit-Staatschef Hosni Mubarak nach Massenprotesten, es herrscht Aufbruchstimmung, aber das Land kommt nicht zur Ruhe.
2013: Die Reformen der Wahlsieger, der Muslimbrüder unter Präsident Mohammed Mursi, sorgen für neue landesweite Proteste. Im Juli wird Mursi durch einen Militärputsch des Amtes enthoben, das Land ist tief gespalten.JEMEN
2011: Proteste werden gewalttätig niedergeschlagen. Im November tritt Präsident Ali Abdullah Salah nach mehrmonatigem Tauziehen zurück. Auch im Anschluss kommt es zu Protesten, unter anderem weil dieser sich Straffreiheit zusichert. Sein Stellvertreter Abed Rabbo Mansur Hadi wird neuer Präsident.
2013: Die Regierung kontrolliert nur Teile des Landes, die Lage ist instabil.SYRIEN
2011: Proteste gegen das Regime von Baschar al-Assad dauern an und entwickeln sich zum Bürgerkrieg. Bemühungen der Internationalen Gemeinschaft um eine friedliche Lösung scheitern.
2013: Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit Beginn des Konflikts bis September 2013 über 100.000 Menschen ums Leben gekommen. Die internationale Gemeinschaft ist gespalten.KATAR
2011: Von Beginn des Arabischen Frühlings an etabliert sich Katar als Unterstützer der Protestbewegungen (mit Ausnahme derjenigen in den Golfstaaten), insbesondere islamistischer Kräfte aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft. Nach vereinzelten Protesten kündigte Emir Scheich Hamad bin Chalifa Reformen und Wahlen für 2013 an.
2013: Im Juni dankt Scheich Hamad bin Chalifa ab und überträgt die Amtsgeschäfte an seinen Sohn Tamim bin Hamad.
Anders in Libyen: Dort schnitten die Muslimbrüder bei den Wahlen 2012 erstaunlich schlecht ab, und auch Versuche, trotzdem bei der Regierungsbildung an zentraler Stelle mitzuspielen, scheiterten. Im Frühjahr 2013 gelang ihnen der Gegenschlag: Im Übergangsparlament wurde ein Gesetz durchgesetzt, das ein zehnjähriges Betätigungsverbot für alle vorsieht, die unter Muammar al-Gadaffi politische Funktionen innehatten. Damit wollten die Muslimbrüder Konkurrenz ausschalten. Doch auch in Libyen zogen sie den Zorn der Bevölkerung auf sich. Parteibüros wurden angezündet. Vieles deutet darauf hin, dass die Kräfte des alten Regimes nach einem Comeback streben: Es gab im Frühsommer einen spektakulären Gefängnisausbruch in Benghasi, und es ist von Milizen die Rede, die sich auf die Seite des alten Regimes gestellt haben. Sie stürzen das Land immer weiter ins Chaos, um so die Rückkehr vorzubereiten. Libyen droht zunehmend in einem Teufelskreis aus mächtiger werdenden Milizen und nicht funktionierenden Institutionen zu versinken. Die Rechnung scheint aufzugehen. Tatsächlich wünschen sich immer mehr LibyerInnen die alten Zeiten zurück.
Jemen geht politisch einen Sonderweg, der sich von den anderen Staaten der „Arabellion“ unterscheidet: „Als wir im November 2011 auf Vermittlung der Golfstaaten unsere Vereinbarung mit den Vertretern des alten Regimes schlossen, waren wir zunächst frustriert. Wir hatten den Eindruck, dass wir im Vergleich zu den anderen arabischen Ländern um die Früchte der Revolution betrogen wurden“, so Ali Nagy al Scherif. Er gehört zu den AktivistInnen der Revolution von 2011.
„Wenn wir uns jetzt so umschauen, dann stehen wir gar nicht so schlecht da. In den meisten anderen Ländern steht es an, eine Art der Zusammenarbeit zwischen Revolutionären und alten Kräften hinzubekommen. Wir sind insofern schon fast so etwas wie ein Vorbild.“ Im Jemen war die Islah-Partei, der jemenitische Ableger der Muslimbruderschaft von Anfang an treibende Kraft beim Aufstand gegen Ex-Präsident Ali Abdullah Salah. Sie war es auch, die in der Einheitsregierung eine Führungsrolle für die Opposition übernahm. Bis zum Sommer 2013 schien es mit der Verfassunggebung und der nationalen Einheit voran zu gehen. Alte und neue Kräfte arbeiteten zusammen, zumindest meistens. Doch seit dem Sturz Mursis dreht sich im Jemen die Spirale zunehmend abwärts: Konflikte, Versorgungsengpässe und Kämpfe verstärken sich wie von Geisterhand, und plötzlich sind der Ex-Präsident und seine Familie wieder erstaunlich präsent in der politischen Diskussion.
Deutlich ist der Einfluss Ägyptens auch in Syrien zu spüren. Mit der Regierung Mursi schwenkte Ägypten außenpolitisch um. Von Mursis Sympathiebekundungen für den islamisch geprägten Aufstand und den bewaffneten Kampf gegen Präsident Baschar al-Assad will man in Kairo nichts mehr hören. Erste Opfer sind die 300.000 syrischen Flüchtlinge in Ägypten, die zunehmend Repressalien ausgesetzt sind. Als es im September 2013 um die US-Militärschläge gegen Syrien ging, bezog die Übergangsregierung in Kairo Position dagegen: US-Interventionen seien grundsätzlich abzulehnen.
Die Allianzen in der arabischen Welt wurden in diesem Sommer neu gestaltet. Der Sommer 2013 ist ebenso wie das Frühjahr 2011 prägend für die Arabische Welt. Sah es im Frühjahr 2013 noch so aus, als würden die Muslimbrüder in der ganzen Region zur führenden politischen Kraft werden, sind sie durch den Sturz Mursis ins Hintertreffen geraten. Die 2011 entmachteten Eliten drängen zurück an die Macht. Zunächst einmal können sie auf eine breite Unterstützung zählen. Die Menschen sind nach zweieinhalb Jahren Krise zermürbt. Sie haben festgestellt, dass zu einem demokratischen Neuanfang mehr gehört, als durch Wahlen eine Regierung an die Macht zu bringen.
Dennoch wäre es falsch, von einem Comeback der alten Garden zu sprechen: Es sind neue Kräfte, die im Anmarsch sind. Parteigänger der alten Regierungen, doch durch die Entwicklungen gewandelt. Sie werden anders regieren als ihre Vorgänger. Sie werden sehr viel mehr auf die Stimmen aus dem Volk hören. Die Situation ist nicht ausweglos. Der Blick auf Tunesien zeigt, es gibt Alternativen. Der dort begonnene Nationale Dialog verläuft zwar zunächst holprig und ist ein beschwerlicher Prozess, doch sind die angespannten Mienen der Verhandlungsführer in Tunis eher ein Grund zum Optimismus als die Bilder von ägyptischen Demonstranten, die Militärchef al-Sisi ihre Unterstützung versichern. Es ist an der Zeit, dass die Arabische Welt sich andere Vorbilder sucht als ausgerechnet Ägypten.
Julia Gerlach ist Journalistin und Autorin mehrerer Bücher. Sie lebt und arbeitet in Kairo.
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